Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte setzt zum ersten Mal in seiner Geschichte Standards für Wirtschaft und Menschenrechte.
Im August 2021 hat der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in einem sehr bedeutsamen Urteil zugunsten von 42 Mitgliedern der Miskito-Gemeinschaft entschieden. Die Miskito-Taucher hatten Honduras wegen Menschenrechtsverletzungen verklagt, die auf eine mangelnde staatliche Überwachung und Regulierung gefährlicher Aktivitäten privater Unternehmen in der Hummerfischerei zurückzuführen waren. In seinem Urteil erteilte der Gerichtshof Honduras den Auftrag, die Fischereiindustrie zu regulieren, und setzte zum ersten Mal in seiner Geschichte Standards für Wirtschaft und Menschenrechte im Rahmen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (ACHR).
Das Urteil stellt einen Wendepunkt im Interamerikanischen Menschenrechtssystem dar, da es zum ersten Mal Verpflichtungen und Maßnahmen für Staaten und in Lateinamerika tätige Unternehmen im Hinblick auf ihre Pflicht zur Achtung der Menschenrechte festlegt.
Viele Fischer der indigenen Miskito-Gemeinschaft im Osten von Honduras leben von der Hummerfischerei. Die Art der Unterwasserfischerei und die Arbeitsbedingungen sind staatlich nicht geregelt und haben sich zu einer hochriskanten Rohstoffindustrie entwickelt. Taucher werden ausgebeutet und gezwungen, übermäßig lange mit Druckflaschen zu tauchen, die oft nicht ausreichend gewartet werden. Sie erhalten keine Sicherheitsausrüstung und keine Ausbildung und müssen daher mit drastischen Folgen für ihre Gesundheit rechnen. Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation schätzt, dass 97 % der 9.000 Miskito-Taucher an der Dekompressionskrankheit erkrankt sind; fast die Hälfte von ihnen ist ganz oder teilweise arbeitsunfähig. Bei der Dekompressionskrankheit bildet der unter erhöhtem Umgebungsdruck im Blut und Gewebe gelöste Stickstoff bei Druckabfall Gasbläschen. Dies kann zu Müdigkeit, Schmerzen in den Muskeln und Gelenken, aber auch zum Tod führen. Nicht selten sterben oder verschwinden Taucher.
Verfahren vor dem Gerichtshof
Mit dem Urteil hat der Gerichtshof eine Anfang 2021 geschlossene Vereinbarung zwischen dem Staat Honduras und 42 Miskito-Tauchern und ihren Familien bestätigt. Die Vereinbarung kam 17 Jahre nach der ersten Petition der Taucher bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Jahr 2004 zustande. In dieser warfen sie dem Staat Honduras vor ihre Menschenrechte verletzt zu haben. Der Staat habe es versäumt sichere Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Ausbeutung von Arbeitskräften zu verhindern und wirksame Verwaltungs- und Gerichtsmechanismen einzurichten.
In dem Urteil wurde den Opfern Recht gegeben und der Staat Honduras zum Schadensersatz für die erlittenen Schäden verurteilt.
Die durch das Urteil aufgestellten Prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
Im Fall der Miskito-Taucher hat sich der Gerichtshof zum ersten Mal mit der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen befasst. Der Gerichtshof ging sogar so weit, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zusammenzufassen. Er bekräftigte, dass die Verpflichtungen der Staaten (wie in Artikel 1 und 2 ACHR festgelegt) diese Prinzipien einschließen. Wichtig ist, dass der Gerichtshof zum ersten Mal in seiner Geschichte explizit klare Geschäfts- und Menschenrechtsstandards festlegt, die von Staaten und Unternehmen einzuhalten sind (im Folgenden „Miskito-Standards“).
In Bezug auf die Menschenrechtsverpflichtungen eines Staates bekräftigt der Gerichtshof, dass Staaten Menschenrechtsverletzungen durch Privatunternehmen, einschließlich transnationaler Unternehmen mit Liefer-/Produktionsketten in ihrem Hoheitsgebiet, durch wirksame gesetzliche und andere Maßnahmen verhindern müssen. Sie müssen auch die Wirksamkeit gesetzgeberischer und anderer Maßnahmen zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen durch wirksame Menschenrechts- und Sorgfaltspflichten sowie Rechtsbehelfsverfahren annehmen und regelmäßig bewerten. Schließlich müssen die Staaten den betroffenen Rechtsinhabern Zugang zu gerichtlichen oder außergerichtlichen Mechanismen gewähren, sorgfältige Ermittlungen durchführen, die Verantwortlichen bestrafen und Wiedergutmachung für Verstöße leisten.
In Bezug auf die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen bekräftigt der Gerichtshof außerdem, dass Unternehmen sicherstellen sollten, dass ihre Aktivitäten keine Menschenrechtsverletzungen verursachen oder dazu beitragen. Weiterhin sollen sie Präventivmaßnahmen zum Schutz der Menschenrechte ihrer Arbeitnehmer und der Umwelt ergreifen. Darüber hinaus müssen Unternehmen fortlaufend Risikobewertungen im Bereich der Menschenrechte durchführen. Sollten Risiken erkannt werden müssen diese abgemildert und etwaig entstandene Schäden ersetzt werden.
Die Bedeutung des Urteils
Das Urteil des interamerikanischen Gerichtshofs entfaltet in drei Aspekten besondere Bedeutung:
- Es schafft neues Fallrecht zu Wirtschaft und Menschenrechten,
- Es hält Staaten dazu an das Verhalten privater Unternehmen zu regulieren,
- Es schafft einen bahnbrechenden Präzedenzfall, der Rechtsprechung, Gesetze und Praxis im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte in Nord- und Südamerika weiter prägen wird.
Der Gerichtshof hat die Miskito-Standards als integralen Bestandteil der Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten in der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention verankert. Damit ist der Fall Miskito-Taucher gegen Honduras und die darin verankerten Wirtschafts- und Menschenrechtsprinzipien eine wichtige Rechtsquelle und hat gemäß der Konventionskontrolllehre des Gerichtshofs Vorrang vor anderen Quellen des nationalen Rechts.
Der Gerichtshof wies Honduras an, die Fischereiindustrie zu regulieren und die Situation der Miskito-Taucher zu überwachen. Er bekräftigte die allgemeine Verpflichtung der Staaten, verbindliche Gesetze zur Einhaltung der Menschenrechte und der ökologischen Sorgfaltspflicht zu erlassen. Es könnte kritisch beurteilt werden, dass der Gerichtshof die Gelegenheit verpasst hat, Honduras direkt anzuweisen, ein Gesetz über verpflichtende menschenrechtliche Sorgfaltspflichten zu erlassen oder einen nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte zu entwickeln. Eine hoffnungsvollere Lesart des Urteils könnte jedoch darauf hindeuten, dass dies indirekt bereits geschehen ist, denn das Urteil stellt einen wichtigen Anreiz für die Staaten in Nord- und Südamerika dar, nationale Gesetze zu verpflichtenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten im Einklang mit den Miskito-Standards einzuführen und/oder zu stärken.
Schließlich prägt der durch die Miskito-Taucher geschaffene Präzedenzfall schon jetzt die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Menschenrechte. So bezog sich der Gerichtshof in der Rechtssache Vera Rojas und andere gegen Chile auf die Miskito-Standards, als er die negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte analysierte, die sich aus dem einseitigen Entzug der häuslichen Krankenhausbehandlung durch eine private Krankenversicherungsgesellschaft ergaben.
Ausblick
Die vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Miskito-Standards werden weiterhin die Rechtsprechung, das Recht und die Praxis im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte in Nord- und Südamerika prägen. Ein offensichtlicher und wichtiger Vorbehalt bleibt jedoch bestehen: Die Zuständigkeit sowohl des Gerichtshofs als auch der Kommission ist auf Staaten beschränkt. Das bedeutet, dass die Urteile des Gerichtshofs nur für Staaten rechtsverbindlich sind und Schadensersatzverpflichtungen deswegen nur ihnen auferlegt werden können und nicht privaten Unternehmen.
Das interamerikanische Menschenrechtssystem in seiner derzeitigen Form kann Unternehmen also nicht direkt für Menschenrechtsverletzungen rechtlich zur Verantwortung ziehen. Um diese Lücke in der Rechenschaftspflicht zu schließen und sicherzustellen, dass die Opfer von Unternehmensmissbrauch Zugang zur Justiz haben, müssten die Staaten in Nord-, Mittel- und Südamerika und anderswo rechtsverbindliche Vorschriften auf nationaler Ebene und auf internationaler Ebene erlassen.