Ein französisches Berufungsgericht hat bestätigt, dass der Zementhersteller Lafarge wegen angeblicher Schmiergeldzahlungen an die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und andere dschihadistische Gruppen während des syrischen Bürgerkriegs wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden soll. Dies erklärten Justizquellen am 18.05.2022 gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP.
Im September 2021 entschied Frankreichs Oberster Gerichtshof, dass der Zementriese Lafarge auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden könne. 2019 erst hatte Lafarge erfolgreich beim Berufungsgericht Paris gegen diesen Anklagepunkt geklagt. Doch dank der Entscheidung des Obersten Gerichts musste sich das Berufungsgericht erneut mit dieser Frage beschäftigen.
Die menschenrechtliche Verantwortung transnationaler Unternehmen
Transnationale Unternehmen sind in der Lage durch Geschäfte in und mit Konfliktregionen bewaffnete Konflikte anzufachen und zu schweren Menschenrechtsverletzungen beizutragen. Sie stehen in der Verantwortung, die Menschenrechte zu achten. Internationale Konzerne sind wichtige gesellschaftliche Akteure, die mit ihrer Geschäftstätigkeit und ihren Geschäftsbeziehungen lokale Strukturen und das Leben der Menschen beeinflussen. Dabei besteht das Risiko, dass sich ihre Aktivitäten (unmittelbar oder mittelbar) nachteilig auf Menschenrechte auswirken. Dies liegt unter anderem an der zunehmenden Verzahnung ökonomischer Tätigkeiten weltweit und daran, dass die Lieferketten in den letzten Jahrzehnten immer länger und komplexer geworden sind.
In Syrien ist seit Beginn des bewaffneten Konflikts eine umfangreiche Kriegsökonomie entstanden, an der fast alle Kriegsparteien beteiligt sind. Dabei geht es um Geschäfte mit Waffen, Rohstoffen und anderen, für die Konfliktparteien, Nationalstaaten und Unternehmen wertvollen Gütern. Von dieser Kriegsökonomie profitieren von lokalen Firmen über Waffen- und Rüstungsexporteure verschiedener Länder bis hin zu großen transnationalen Konzernen wie Lafarge und ihre Tochterunternehmen.
Der Vorwurf gegen Lafarge
Die Untersuchung gegen den französischen Zementriesen Lafarge wurde im Oktober 2016 eingeleitet, nachdem das französische Ministerium für Wirtschaft und Finanzen eine Beschwerde gegen den Konzern eingereicht hatte.
Im Juni 2018 wurde schließlich ein förmliches Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Finanzierung eines terroristischen Unternehmens in Syrien gegen Lafarge eingeleitet. Gegen das Unternehmen wurde als juristische Person ermittelt.
Lafarge sollte gegen ein Embargo verstoßen und das Leben anderer gefährdet haben. Laut der Anklage unterhielt Lafarge Absprachen mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS), um den Betrieb ihrer Fabrik in Nordostsyrien von 2012 bis 2014 aufrecht zu erhalten. So soll das Unternehmen für die Zementherstellung Rohstoffe wie Öl und Puzzolanerde vom IS gekauft und Gebühren für Passierscheine gezahlt haben. Insgesamt soll Lafarges Tochtergesellschaft Lafarge Cement Syria circa 13 Millionen Euro an verschiedene bewaffnete Gruppen gezahlt haben – offenbar ungeachtet des anhaltenden Krieges, der regelmäßigen Entführungen und der Gefährdung der Mitarbeiter. Lafarge verließ Syrien schlussendlich im September 2014, nachdem der IS sein Werk in Jalabiya, rund 150 Kilometer nordöstlich der Regionalhauptstadt Aleppo, beschlagnahmt hatte. Das Unternehmen gab zu, in den Jahren 2013 und 2014 Geld an bewaffnete syrische Gruppen gezahlt zu haben, um die sichere Ausreise von Mitarbeitern zu gewährleisten und sein Werk in dem vom Krieg zerrütteten Land zu versorgen.
Das Unternehmen ist nicht der erste multinationale Konzern, der wegen seiner Tätigkeit in einem Land, in dem die Bevölkerung unter schweren Menschenrechtsverletzungen zu leiden hatte, dem Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wird. Solche Fälle wurden jedoch selten vor Gericht gebracht. In den 1990er Jahren verklagten zwölf Nigerianer den britisch-niederländischen Energieriesen Shell in den USA wegen Beihilfe zu außergerichtlichen Tötungen, Folter, Vergewaltigung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nigerdelta. Der Oberste Gerichtshof der USA wies den Fall 2013 mit der Begründung ab, dass die US-Gerichte in dieser Angelegenheit nicht zuständig seien.
Das Verfahren vor den französischen Gerichten
2019 hatte ein französisches Gericht die Anklage gegen das Zementunternehmen Lafarge wegen „Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zunächst zurückgewiesen. Dies begründete das Gericht damit, dass die Zahlungen nicht dazu dienten, die grausamen Hinrichtungen und Folterungen des IS zu unterstützen. Die weiteren Anklagepunkte hielt es gegen das Unternehmen allerdings aufrecht. Dazu gehörten:
- die Finanzierung einer terroristischen Gruppierung,
- die Verletzung eines Embargos und
- die Gefährdung anderer.
Acht Beamte von Lafarge wurden ebenfalls wegen ihrer angeblichen Rolle in diesem Prozess angeklagt. Das Fehlverhalten geht der Fusion von Lafarge mit dem Schweizer Unternehmen Holcim im Jahr 2015 voraus, durch die LafargeHolcim, der größte Zementhersteller der Welt, entstanden ist. Christophe Ingrain, ein Anwalt von Lafarge, begrüßte die Entscheidung und sagte, das Gericht habe „anerkannt, dass Lafarge nicht an einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt war“.
Dasselbe Gericht entschied im Oktober 2019 zugunsten des Antrags von Lafarge, dass mehrere Nichtregierungsorganisationen, die gegen das Unternehmen geklagt hatten, nicht mehr als Kläger in dem Fall betrachtet werden können. Seitdem hat LafargeHolcim nach eigenen Angaben eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, die ergab, dass das lokale Unternehmen Dritten Gelder zur Verfügung gestellt hat, um Geschäfte mit einer Reihe bewaffneter Gruppen auszuhandeln. Das Unternehmen räumte ein, dass in Syrien „inakzeptable individuelle Fehler“ gemacht wurden, bis seine Anlagen in dem Land im September 2014 evakuiert wurden.
Elf ehemalige Mitarbeiter von Lafarge Cement Syria klagten mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen vor dem Kassationsgerichtshof gegen die Entscheidung von 2019.
Im Juli 2021 hob Frankreichs oberstes Gericht allerdings die Entscheidung der unteren Instanz auf, die Anklage gegen den Zementriesen Lafarge wegen Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit im syrischen Bürgerkrieg abzuweisen. Der Oberste Gerichtshof ordnete eine Wiederaufnahme des Verfahrens im September 2021 an. Das Urteil des Kassationsgerichts bedeutete einen schweren Rückschlag für Lafarge.
Das Unternehmen hatte eingeräumt, dass seine syrische Tochtergesellschaft Mittelsmänner bezahlt hatte, die mit bewaffneten Gruppen verhandelten, um den Transport von Mitarbeitern und Waren innerhalb des Kriegsgebiets zu ermöglichen. Es stritt jedoch jede Verantwortung dafür ab, dass das Geld in die Hände von Terrorgruppen gelangt sei, und kämpfte dafür, dass das Verfahren wieder eingestellt wird.
Das höchste französische Berufungsgericht entschied jedoch, dass man an Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitschuldig sein könne, auch wenn man nicht die Absicht habe, an den begangenen Verbrechen beteiligt zu sein. Es führte aus, dass die wissentliche Zahlung von mehreren Millionen Dollar an eine Organisation, deren einziger Zweck ausschließlich kriminell war, ausreiche, um eine Beihilfe zu begründen, unabhängig davon, ob die betreffende Partei eine kommerzielle Tätigkeit verfolge. Die Richter fügten hinzu, dass „zahlreiche Handlungen der Beihilfe“ ungestraft bleiben würden, wenn die Gerichte eine mildere Auslegung vornehmen würden.
Das Gericht verwies die Angelegenheit an die Ermittlungsrichter zurück, um die Anklage wegen Beihilfe erneut zu prüfen. Es hob auch die Entscheidung der Vorinstanz auf, die Anklage wegen Gefährdung anderer aufrechtzuerhalten, da nicht klar sei, ob das französische Arbeitsrecht in diesem Fall anwendbar sei, und verwies auch diese Frage an die Ermittler zurück.
Das oberste französische Gericht hielt außerdem die Anklage wegen Terrorismusfinanzierung aufrecht, für deren Abweisung Lafarge gekämpft hatte.
Aktuelle Situation
Lafarge – jetzt Teil des Schweizer Baustoffkonzerns Holcim – hat zugegeben, 2013 und 2014 fast 13 Millionen Euro an Mittelsmänner gezahlt zu haben, um seine syrische Zementfabrik am Laufen zu halten, lange nachdem sich andere französische Firmen aus dem Land zurückgezogen hatten. Das Unternehmen behauptet nach wie vor, es sei nicht dafür verantwortlich, dass das Geld in die Hände terroristischer Gruppen gelangt sei.
Das Pariser Berufungsgericht hat den Einspruch Lafarges verworfen und stattdessen Frankreichs oberstem Gerichtshof rechtgegeben. Das Gericht schlug sich nun auf die Seite der Staatsanwaltschaft, die behauptete, Lafarge habe „über seine Tochtergesellschaften Operationen des Islamischen Staates mit mehreren Millionen Euro finanziert, und zwar in vollem Bewusstsein über dessen Aktivitäten“. Die Entscheidung bedeutet, dass ein Richter Lafarge und acht seiner Führungskräfte, darunter der ehemalige CEO Bruno Lafont, vor Gericht stellen könnte.
Das Berufungsgericht bestätigte auch die Anklage wegen Finanzierung von Terrorismus und Gefährdung des Lebens anderer, weil Lafarge seine syrischen Mitarbeiter in Gefahr gebracht habe, als die IS-Rebellen weite Teile des Landes einnahmen und den Konzern im September 2014 schließlich dazu zwangen, sein Zementwerk in Jalabiya bei Aleppo aufzugeben. Das Unternehmen hatte 680 Millionen Euro in den Bau des Werks investiert, das 2010 fertiggestellt wurde – nur ein Jahr vor Ausbruch des Krieges, der schätzungsweise mehr als eine halbe Million Menschen getötet hat. Die Anwälte von Lafarge lehnten eine Stellungnahme zu dem Urteil ab, als sie von der Nachrichtenagentur AFP kontaktiert wurden.
Wann der Prozess gegen Lafarge starten könnte, ist noch nicht geklärt. Der Schweizer Mutterkonzern LafargeHolcim kündigte in einer Mitteilung an, gegen die Entscheidung Berufung einlegen zu wollen. Ein Prozess hätte historische Bedeutung: Erstmals käme mit dem Konzern Lafarge in Frankreich ein Unternehmen als juristische Person für die mutmaßliche Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht , und nicht wie bisher nur Einzelpersonen. Dies würde Präzedenzfall schaffen und die Verantwortung des gesamten Unternehmens und seiner Strukturen statt der Verantwortung Einzelner in den Vordergrund rücken.